Perspektiefe 56, Maerz 2022

Denn keiner streitet und ringt für sich selbst

ZUM THEMA: Vertrauen zu haben ist für die menschliche Existenz über­lebenswichtig. Wenn man im „vertrauten“ Familien­kreis aufwächst, wird man sich dessen erst später bewusst.

von: Prof. Dr. Karl Heinrich Schäfer, bis 2010 Präses der Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

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Es ist zunächst ein bedingungs­loses, unbe­wusstes Vertrauen in Personen im engsten Familienkreis, das sich im Laufe der Jahre entwickelt zu einem bewussteren Wahrnehmen der Menschen, denen man vertraut. In Schule und Studium oder Beruf erfährt man dann, dass es auch außerhalb der Familie Abläufe gibt, die auf Vertrauen beruhen. Es ist eher ein Vertrauen in vereinbarte Strukturen als in bestimmte Personen.

Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man sich in Staat und Gesellschaft betätigt und dabei gesetzliche Grundlagen oder Regelwerke vorfindet, die man beachten muss, auf die man andererseits aber auch „vertrauen“ darf. In diesem Sinne verstehe ich auch meine Prägung in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Wenn man wie ich von rechts- und sozialstaatlichen Prinzipien überzeugt ist, dann ist es schwer erträglich, wenn man von denen, die von einer unbestrittenen Rechtslage abweichen, Antworten erhält wie „Du hast ja Recht, aber das hier ist Politik.“, „Das ist doch nicht so schlimm.“ oder sogar „Die anderen machen es doch auch.“.

„Es sollte also alles ‚im Vertrauen auf Gottes Beistand‘ so geregelt sein, dass man in der Kirche auf gesicherter Rechts­grundlage im gegen­seitigen Ver­trauen handeln kann.“
Prof. Dr. Karl Heinrich Schäfer

Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, nicht nur unseren Staat als freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat mitzugestalten, sondern diese Prinzipien auch innerhalb der Kir­che mit Leben zu füllen. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat sich laut Präambel „im Vertrauen auf Gottes Beistand“ eine „Kirchen­ord­nung“ gegeben, die bewusst von der Ge­meinde her in Richtung gesamtkirchlicher Verantwortung aufgebaut ist und auf Dekanats- und gesamtkirchlicher Ebene aus­geprägte synodale Be­fugnisse festlegt. Die Kirchen­synode verfügt über eine „parlamentarische“ Ge­schäftsordnung und mit den auch während des Jahres tagenden Ausschüssen über deutliche parlamentarische Strukturen. Es sollte also alles „im Vertrauen auf Gottes Beistand“ so geregelt sein, dass man in der Kirche auf gesicher­ter Rechts­grundlage im gegenseitigen Vertrauen handeln kann.

Wie wir innerhalb der Kirche miteinander umgehen, ist allerdings zuweilen immer noch mit Irri­ta­tionen belastet. Kirchlich engagierte Juristen äußern ihre Sorge, dass klare und verbindliche rechtliche Grund­lagen mitunter theologisch um­interpretiert und in der kirchlichen Pra­xis nicht immer ernst genommen würden. Auch aus der EKHN sind mir Fälle dieser Art bekannt und immer noch vor Augen. Dabei ist ein an rechtsstaatlichen Verwaltungs­grundsätzen orientiertes Verfahren in kirchlichen Entscheidungs­prozessen wichtiger als dies als Misstrauen gegenüber der handelnden Kirchen­leitung zu be­greifen. Haben wir keinen Mut? Ha­ben wir nicht genügend Vertrauen in nachvollziehbare und nachprüfbare Verfahren?

Es war gewiss eine große Aufgabe für die Evan­gelische Kirche, die für die Demokratie einschlägigen Entscheidungsfindungsprozesse kirchlich zu übernehmen. Dass dies „im Vertrauen auf Gottes Beistand“ und nur im gegenseitigen Ver­trauen gelingen kann, hat der frühere Präses Otto Rudolf Kissel im Jahr 1985 wie folgt begründet:
„Denn keiner streitet und ringt für sich selbst und seine persönlichen Ziele, sondern uns alle verbindet das gemeinsame Bemühen, dem Herrn zu dienen und für ihn Zeugnis zu geben. Einig in diesem Ziel, werden wir über die Wege dann getrost streiten und gelegentlich auch eigene Posi­tionen getrost aufgeben können.“