Perspektiefe 58, Dezember 2022

Fachkräfte dringend gesucht

HINTERGRUND: Kinder brauchen Erzieherinnen und Lehrer. Pflegebedürftige Menschen sind auf Unterstützung durch Pflegekräfte und medizinisches Personal angewiesen. Die Installation von Solaranlagen oder Wärmepumpen muss von fachkundigen Handwerkern durchgeführt werden. Die App für das E-Rezept wird von IT-Expertinnen entwickelt. Beispiele, die zeigen, dass unsere Gesellschaft jetzt und in der Zukunft viele fähige Hände und kluge Köpfe braucht, um die anstehenden Herausforderungen und Transforma­tionen bewältigen zu können. Aktuelle Prognosen für die nächsten 5 Jahre zeigen jedoch, dass es für Betriebe zunehmend schwerer werden wird, Fachkräfte zu rekrutieren.

von: Dr. Julia Dinkel, Referat Arbeit & Soziales des ZGV

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Das Fehlen von Fachkräften macht sich bereits jetzt in vielen unterschiedlichen Bran­chen bemerkbar. War ein Mangel an Fach­kräften in den letzten Jahren insbesondere aus den Bereichen der Pflegeberufe und medizini­schen Berufen bekannt, so verzeichnet die Bun­desagentur für Arbeit aktuell auch vermehrt in den Bereichen Erziehung, Handwerk, Bauberufe und IT-Experten Engpässe. Als Fachkraft bezeichnet man in der Regel eine arbeitsfähige Person mit einer formalen Qualifikation und/oder einem erlernten Beruf. Von einem Fachkräftemangel wird üblicherweise dann gesprochen, wenn in einer Volkswirtschaft „eine bedeutende Anzahl von Ar­beitsplätzen nicht durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit bestimmten Kenntnissen und Fä­higkeiten besetzt werden kann, weil auf dem Arbeitsmarkt keine ausreichende Anzahl entsprechend qualifizierter Fachkräfte zur Verfügung steht“ (Fachkräfteengpassanalyse 2021, S. 6). So hat sich die Zahl der offenen Stellen, für die es keine passend qualifizierten Arbeitssuchenden gibt, im Verlauf des Jahres 2021 von 213.000 auf 465.000 erhöht (KOFA Kompakt).

Gründe für den Mangel: Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung

Die Gründe für den Mangel an Fachkräften in Deutschland sind in erster Linie auf die „drei Ds“ zurückzuführen: Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung. Der demografische Faktor ist der Haupttreiber für den Fachkräftemangel, da die sogenannte Babyboomer-Generation (Jahrgänge 1955–1970) nach und nach aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Die nachfolgenden deutlich gebur­ten­schwächeren Jahrgänge können die durch den Renteneintritt der Babyboomer-Generation ent­­stehenden Lücken auf dem Arbeitsmarkt nicht aus­glei­chen. Kamen im bisher geburtenstärksten Jahr­­­gang 1964 ca. 1,3 Millionen Menschen in Deutsch­­land zur Welt, waren es im geburtenschwächsten Jahrgang 2011 nur ca. 663.000. Da­rüber hinaus führt diese demografische Ent­wick­lung dazu, dass unsere Gesellschaft älter und da­­mit vermutlich auch pflegebedürftiger werden wird. Mittelfristig werden daher vermehrt Fach­kräfte in den Bereichen Pflege, Gesundheit und So­ziales benötigt werden. Das bereits bestehende Problem des Fachkräftemangels wird sich daher in den nächsten Jahren vermutlich noch verschärfen.

„Der demografische Faktor ist der Haupt­trei­ber für den Fach­kräftemangel, da die sogenannte Baby­boomer-Generation (Jahrgänge 1955–1970) nach und nach aus dem Erwerbsleben aus­scheidet.“

Dr. Julia Dinkel

Bei der Digitalisierung als einem der treiben­den Faktoren für den Fachkräftemangel zeigt sich ein ambivalentes Bild. Denn auf der einen Seite führt die fortschreitende Digitalisierung zu einem Abbau von Arbeitsplätzen, da einige Tätigkeiten in den Betrieben in den nächsten Jahren zunehmend digitalisiert und automatisiert werden können. Auf der anderen Seite entstehen durch Digitalisierung und neue digitale Geschäftsideen aber auch neue Arbeitsplätze, für die jedoch zum Teil passende Fachkräfte fehlen. Dabei wird der Bereich der IT-Experten bereits jetzt von der Bundesagentur für Arbeit als ein Bereich mit Engpässen be­schrieben. Hier zeigt sich deutlich das Problem der sogenannten „Mismatch“-Arbeitslosigkeit. Ein Mis­match auf dem Arbeitsmarkt, also ein Nicht­zusam­men­passen von Angebot und Nachfrage, entsteht, wenn die Qualifikation von Arbeits­su­chenden nicht zu den Anforderungen von offenen Stellen passt.

Nicht zuletzt gilt auch die Dekarbonisierung als ein Treiber des Fachkräftemangels. Unter De­karbonisierung wird im Allgemeinen die Abkehr von fossilen Brennstoffen zur Energiegewinnung, Herstellung von Produkten oder Fortbewegung ver­standen. Im Bereich der erneuerbaren Ener­gien, aber auch in Bereichen wie der Gebäude­sanierung, Mobilität und Industrie werden daher Fachkräfte benötigt, um mehr Nachhaltigkeit in der Art unseres Lebens und Wirtschaftens zu ermöglichen. Auch der Faktor Dekarbonisierung wird aller Wahrscheinlichkeit zu Mismatches auf dem Arbeitsmarkt führen. Beschäftigte aus Berei­chen wie der fossilen Energiegewinnung oder der Automobilindustrie bringen andere Qualifikationen mit, als sie im Bereich der erneuerbaren Energien oder der Bautechnik gefragt sind.

Welche mittel- bis langfristigen Auswirkungen der Klimawandel allgemein auf den deutschen Arbeitsmarkt haben wird, lässt sich nur schwer prognostizieren. Gleiches gilt für die wirtschaft­lichen Folgen des Angriffskrieges von Russland gegen die Ukraine. Auch die Effekte der Covid-19-Pandemie auf den deutschen Arbeitsmarkt und globale Lieferketten ließen sich nicht im Vorfeld berechnen oder bestimmen. So wird es neben den drei Haupttreibern Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung auch zukünftig Entwick­lungen geben, die den Arbeitsmarkt in Deutsch­land und damit auch den Bedarf an Fachkräften beeinflussen werden.

Fünf Lösungsansätze für mehr Fachkräfte

Die mittel- und langfristigen Prognosen der Bun­desagentur für Arbeit und die Ergebnisse von Forschungsinstituten weisen darauf hin, dass der Fachkräftemangel in Deutschland in den nächsten 5–10 Jahren zunehmen wird. Auf verschiedenen Ebenen wird daher diskutiert, wie dem Fachkräfte­mangel entgegengewirkt werden kann. So hat die Bundesregierung am 12.10.2022 eine Fachkräfte­strategie beschlossen, die im Wesentlichen fünf Strategien ausweist, um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten: (1) zeitgemäße Ausbildung, (2) gezielte Weiterbildung, (3) Arbeitspotenziale wirksamer heben und Erwerbsbeteiligung erhöhen, (4) Verbesserung der Arbeitsqualität und Wandel der Arbeitskultur, (5) Einwanderung modernisieren und Abwanderung reduzieren.

„Beschäftigte aus Be­rei­chen wie der fos­silen Energie­gewinnung oder der Automobil­industrie bringen andere Qualifikationen mit, als sie im Bereich der erneuerbaren Ener­gien oder der Bau­technik gefragt sind.“

Insbesondere eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen rückt in den Fokus von Debatten. Obwohl die Erwerbstätigkeit von Frauen seit den 1990er-Jahren gestiegen ist, ist eine Vielzahl von Frauen nach wie vor in Teilzeit erwerbstätig. Frauen reduzieren häufig ihre Arbeitszeit, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können. Denn immer noch übernehmen Frauen einen sehr hohen Prozentsatz an unbezahlter Care-Arbeit und betreuen zu Hause Kinder oder pflegen An­gehörige. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie komplex die Lösung des Problems des Fachkräfte­mangels ist und dass an mehreren Stellschrauben gedreht werden muss. Frauen können nämlich nur dann wieder verstärkt erwerbstätig werden, wenn ein ausreichendes Betreuungsangebot für Kinder zur Verfügung steht oder die Pflege von Ange­hörigen gewährleistet wird. Mehr Betreuungs­ange­bote für Kinder und ein höherer Bedarf an Pflegekräften erhöhen jedoch auch wieder den Bedarf an Fachkräften. Um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, bedarf es auch noch anderer Veränderungen wie z. B. die Flexibilisie­rung von Arbeitszeiten und einen Wandel in der Arbeitskultur. Strukturelle Fehlanreize im Bereich des Ehegattensplittings oder der Mini-Jobs müssen abgebaut werden, um eine höhere Erwerbs­tätigkeit von Frauen zu gewährleisten. All diese Überlegungen zeigen gut die komplexen Auf­gaben, vor die uns der Fachkräftemangel stellt. Eine Vielzahl an strategischen Maßnahmen ist notwendig, um dem Fachkräftemangel begegnen zu können. Denn Fachkräfte bleiben in Deutsch­land dringend gesucht, es ist daher wichtig, die notwen­digen Änderungen so schnell wie möglich anzugehen.