Perspektiefe 58, Dezember 2022

Wie begegnen wir Fachkräftemangel?

SOZIALETHISCHE GEDANKEN: Die Unternehmen in Deutschland stehen vor einem großen Problem. Sie suchen händeringend nach qualifizierten Fachkräften. Und auch Politik und Verbändevertreter suchen nach Lösungen. Könnte ein Blick auf christliche Glaubenserfahrungen zur Lösung beitragen?

von: Prof. Dr. Wolfgang Nethöfel, Institut für Wirtschafts- und Sozialethik (IWS)

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Mitten in die sich überlagernden Krisen­­situationen hinein (Ukraine-Krieg, Energie­­man­gel, Corona-Pandemie und Klima­wan­del), auch mitten hinein in die komplexe Pro­blemkon­stellation, die gerade unter „Fachkräfte­mangel“ diskutiert wird, zielt die zentrale Botschaft des christlichen Glaubens, dass Gott uns so liebt, wie wir sind (Römer 5,8; 1. Johannes 4,10). Wie unser Grundgesetz in Artikel 1 festhält, verleiht das je­dem Menschen einen Wert, der unabhängig ist von seinem Können, von seinen Zertifikaten und von der gegenwärtigen Nachfragesituation auf dem Arbeitsmarkt.

Christliche Urerfahrung ist, dass uns dies von dem Zwang befreit, vorab Leistungen erbringen zu müssen, um letztlich okay zu sein. Es gibt eine Be­ziehung, die uns trägt, so wie wir sind. Wenn wir uns das gesagt sein lassen, öffnen wir uns für Beziehungen, in denen sich Geben wie Nehmen anders gestalten als zuvor.

Die bewegte Berufsgeschichte des Christen­tums wirft Schlaglichter auf die gegenwärtige Diskussion um den Fachkräftemangel:
In der Tradition der Prophetenschulen ruft Jesus Menschen aus ihren traditionellen beruflichen und familiären Bindungen heraus in seine Nachfolge. Das führt in der Folgezeit zu einem Nebeneinander eines ausgehaltenen Wanderprediger-Klerus und einer weiter arbeitenden Gemeinde, die für dessen Unterhalt sorgt. Paulus entzieht sich dieser Alternative, indem er als Zeltmacher weiterarbeitet (1. Thessalonicher 2,9).

Christliche Gemeinden waren die ersten Fir­men im heutigen Sinne. Menschen aus unter­schied­lichen Kulturkreisen, Ständen (Galater 3,28), mit unterschiedlichen Begabungen (Römer 12,6; 1. Korinther 12; 14) und mit einem gemeinsamen Ziel arbeiteten zusammen.

„Christliche Gemeinden waren die ersten Fir­­men im heutigen Sinne. Men­schen aus unter­schied­lichen Kultur­kreisen, Ständen, mit unterschiedlichen Be­­ga­bungen und mit einem gemeinsamen Ziel arbeiteten zu­sammen.“

Prof. Dr. Wolfgang Nethöfel

Die Kultur des christlichen Europa ist wesentlich mitgeprägt durch das „Bete und Arbeite“ in den Klöstern. Der Mönch Luther erkennt darin jene „Werkerei“ fürs Seelenheil wieder. Er prägt bis heute unser Verständnis von weltlicher Arbeit, in­dem er diese „Beruf“ nannte – und sie damit mit jenem Begriff adelte, der zuvor für die Weihe von Mönchen und Priestern reserviert war („professio“).

Diese „innerweltliche Ethik“ lässt uns Markt­gesetze als Rückmeldeordnung ernst nehmen und kann uns dazu befreien, die Marktinteressen aller Akteure im Feld und den möglichen Erfolg unseres Handelns nüchtern zu beurteilen. Die Ver­innerlichung eines möglichen Markterfolgs kann aber auch dazu führen, dass Marktgesetze ideologisiert werden, bis sie auch das Menschenbild bestimmen („homo oeconomicus“). Beides muss bedacht werden, wenn wir über Lösungsmög­lich­keiten für den Fachkräfte­mangel nachdenken.

Einige Schlaglichter

Mit der Forderung: „Ausbildung statt Studium!“ ist es sicher nicht getan. Wir haben immer noch zu wenige Lehrstellen, um allen Interessierten eine echte Wahl zu ermöglichen. Die freie Wahl von „Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte“ aber ist ein Bürgerrecht (GG Art. 12)! Und im europäischen Vergleich ist unsere Studierendenquote immer noch zu gering.
Dort wo sich ein Mangel an Pflegekräften (aber auch an Ärztinnen und Ärzten) bemerkbar macht, im klinischen Bereich, hilft wohl am ehes­ten ein vergleichender Blick auf nationale Ge­sundheitssysteme im europäischen Ausland. Man kann im Vergleich klar erkennen, wo in unserem System Fehlanreize bestehen (die Fall­kosten­pauschale ist nur ein Beispiel) und wo der Einfluss privaten Gewinnstrebens im Gesund­heitsbereich beschränkt werden muss.

Ein befreiter und befreiender Blick ist auch hilfreich, wenn wir auf die Selbstregulierungen und auf die Potenziale des Fachkräftemarktes schauen. Deutschland wird selbst über Europa hinaus beneidet um seine duale Berufsausbildung: die Kom­bination von Lehre und Berufsschule. Das Prüfungssystem bis hin zum Meisterbrief setzt hohe Standards und sichert eine hohe Leistungs­qualität. Aber schon die Notwendigkeit, EU-weite und internationale Vergleichbarkeit herzustellen, machte deutlich, dass sich hier etwas verselbstständigt hat, das jetzt den Beteiligten auf die Füße fällt. Maßstab sind nicht die Zertifikate, sondern die Kompetenz der Fachkräfte und die Kompetenz der Firmen, diese so rasch wie möglich so aus­zubilden, dass sie den Anforderungen entsprechen. Firmen, die das unter Konkurrenzdruck nicht schaf­fen und die ihre Verbände nicht dazu be­wegen, veraltete Regelungen aufzuheben, müssen den Marktgesetzen folgen!

Und auch hier muss sich der Blick noch einmal weiten auf ausländische Bewerberinnen und Be­werber und auf diejenigen, die gerne übersehen werden, wenn es um ihren möglichen betrieblichen Beitrag geht – weil sie eben nicht über die betreffenden Zeugnisse verfügen: „An- und Unge­lernte haben Kompetenzen und Fähigkeiten, die wertvoll sind und Anerkennung verdienen.“ „Eine Erfahrung des täglichen Lebens und unseres christ­lichen Glaubens ist es dagegen, dass Men­schen viel mehr sind als ihre Zertifikate, dass sie sich entwickeln und immer wieder neu anfangen können.“ (Einfache Arbeit? Der Arbeitsmarkt der Geringqualifizierten, KDA-Impuls 2015, S.18.20)

Dass Zertifikate und Begabungen nicht zwangs­läufig gleichzusetzen sind, ist eine Er­fahrung, die Unternehmen immer wieder machen. Eine besondere Herausforderung ist daher der Umgang mit Begabungen im Betrieb: eine gute Führung unter heutigen Marktbedingungen. Dabei wird aber nur die lebenspraktische Bedeutung jener christlichen Urerfahrung deutlich, von der wir ausgehen konnten: Die Beziehung fördert die Begabung, und dann kommt die eigene Leistung wie von allein. „Der Mensch ist zur Arbeit geboren“, schreibt Luther zu Beginn der Neuzeit, „wie der Vogel zum Fliegen.“ Was heißt das aber für den Umgang mit jenen Gaben und Begabungen, mit denen Menschen in frühen oder späten Si­tuationen der Berufswahl stehen? In diesem Zu­sam­menhang wird zu Recht die Forderung nach Befähigungsgerechtigkeit erhoben. Denn immer noch ist der Zugang zu berufsqualifizierenden Abschlüssen abhängig von der sozialen oder na­tionalen Herkunft.

Eine kirchliche Stellungnahme, die das anführt, verweist ebenfalls zu Recht darauf, dass die grundsätzliche christliche Freiheit im Umgang mit den eigenen Begabungen nicht losgelöst von sozialer Verantwortung zu sehen ist (Einander-Nächste-Sein in Würde und Solidarität. Leitbilder des Sozialstaates am Beispiel Inklusion und Pfle­ge, EKD-Texte 139 (2021)).
Aber vielleicht sollte man dabei anders einsetzen. Wenn wir in einem weltweit vernetzten Markt mit sich schnell ändernden Rahmenbedingungen und mit stets zu spät kommenden Regulierungen eine eigene Adresse haben, bei unserem Namen gerufen werden (Jesaja 43,1), dann sollten wir uns mit unseren Begabungen zunächst als Unter­neh­merin und Unternehmer unserer selbst angesprochen fühlen und stets selbst entscheiden, für wen, mit wem und wie lange wir unsere Begabungen in den Dienst des Nächsten stellen. Ältere sollten dabei beratend dienen (servant leadership).

Oder wie Luther sagt:
„Er könnte es wohl selbst tun.
Er wollte es aber durch dich tun.“