Prinzip Alternative: Verwaltung zwischen Bürokratie und Management
HINTERGRUND: Wie ist der Titel dieses Beitrags zu verstehen? Entgeht Verwaltung den Nachteilen, die Bürokratie und Management zugeschrieben werden? Oder gelingt es ihr im Gegenteil, sich aus beider Vorteilen zu bedienen? Und drittens: Kann es Verwaltung überhaupt gelingen, eine gegenüber Bürokratie und Management neutrale Position zu beziehen, die es ihr erlaubt, deren Nachteile zu vermeiden und deren Vorteile zu übernehmen? Wie also wären Bürokratie und Management zu beschreiben, um Verwaltung davon zu unterscheiden?
von: Prof. Dr. Dirk Baecker, Seniorprofessor für Organisations- und Gesellschaftstheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee
Es liegt auf der Hand, dass es keine objektiven Antworten auf diese Fragen gibt. Zu vielfältig sind die Beschreibungen und Bestimmungen von allen drei Formen der Gestaltung, Steuerung und Kontrolle von Organisation. Denn immerhin so viel weiß man: Es geht um Organisation. Aber was ist eine Organisation? Eine Versammlung von Menschen, um gemeinsam an vereinbarten Zielen zu arbeiten? Oder eher eine Versammlung von Menschen, die zu ihrem Schrecken entdecken, dass alle anderen in ihrer Organisation an ganz verschiedenen Zielen arbeiten? Kann es sein, dass Bürokratie, Management und Verwaltung darin ihren Sinn haben, dass sie für die unwahrscheinliche Einheit von Zielen oder, wenn das nicht geht, für eine hinreichende Versorgung mit Mitteln, mit deren Hilfe alle an ihren verschiedenen Zielen arbeiten können, sorgen? Wie also bestimmt man Bürokratie, Management und Verwaltung in einer Organisation, die als ein soziales System zu verstehen ist, in dem Strategien verfolgt, Karrieren gemacht, Themen gepflegt, Leute getroffen, Ideen entwickelt und sogar Entscheidungen getroffen werden, ohne dass irgendjemand sich vorstellen kann, wie all dies unter einen Hut zu bringen ist, und doch genau das immer wieder, wenn auch mit Reibungsverlusten und nicht ohne Konflikte und Verluste, gelingt?
Immerhin dürfte darüber Einverständnis herrschen, dass Bürokratie, Management und Verwaltung Organisationsprobleme lösen. Alle drei reagieren auf unterschiedliche Weise auf eine für Organisationen typische Unruhe. Worin besteht diese Unruhe? Niklas Luhmann sieht sie in seinem Buch Organisation und Entscheidung (2000) darin, dass Organisationen Entscheidungen treffen und es zu jeder Entscheidung Alternativen gibt. Für die Gesellschaft ist dies von Vorteil, denn so kann sichergestellt werden, dass Unternehmen und Behörden, Armeen und Kirchen, Schulen und Universitäten, Museen und Theater einerseits Entscheidungen treffen, zu jeder Entscheidung jedoch andererseits Alternativen generieren. So wächst der Möglichkeitenraum einer Gesellschaft abhängig davon, wie Mitarbeiter und Kunden, Führung und Finanzen, Technologien und Organisationsstrukturen in der Lage sind, zu jeder Entscheidung einer Organisation Alternativen auf den Plan zu rufen. Die Organisation muss dieses Prinzip sogar begrüßen, denn als „rational“ gilt eine Entscheidung nur dann, wenn sie zwischen Alternativen gut informiert und wohlbegründet eine Wahl getroffen hat. Das heißt aber, dass sie Alternativen aufrufen muss. Sie sitzt also in der Falle einer selbst geschaffenen Unruhe. Denn so gut informiert und wohl begründet eine Wahl auch sein mag, es finden sich immer Informationen und Gründe für die ausgeschlossene Alternative.
„Verwaltung bedeutet, sich zwischen Bürokratie und Management nicht nur entscheiden zu müssen, sondern beides auch kombinieren zu können. Damit steigt der Reflexionsbedarf in Organisationen.“
Prof. Dr. Dirk Baecker
Der Trick der Organisation, sich aus dieser Falle zu befreien, besteht darin, nicht nur Entscheidungen zu treffen (das tun Individuen auch), sondern Entscheidungen so zu treffen, dass weitere Entscheidungen getroffen werden können. Es geht um die Einrichtung von Entscheidungsketten. Erst das ist eine Organisation. Man sieht sofort, dass dies die Alternativen nicht aus der Welt schafft (dann wäre die Organisation nicht mehr rational, sondern bloße Technik, vielleicht sogar pure Gewalt), aber unter einen erheblichen neuen Anspruch stellt. Jede Alternative muss sich in Entscheidungsketten auch gegenüber vorherigen und nachfolgenden Entscheidungen behaupten. Die Organisation gewinnt an Komplexität – auch in der Hinsicht neuer Alternativen zu ganzen Entscheidungsprogrammen.
Und genau hier setzen die alternativen (!) Formen der Bürokratie, des Managements und der Verwaltung an. Eine Bürokratie, lernt man bei Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft, 1921), besteht in der Einrichtung des Prinzips schriftlicher Aktenführung. Die Büros in Behörden und Unternehmen, Kirchen und Armeen, Schulen und Universitäten, Museen und Theatern, Verbänden, Vereinen und NGOs herrschen dort, wo sie durchsetzen können, dass keine Entscheidung getroffen wird, die sich nicht auf vorherige Entscheidungen berufen und nachfolgende Entscheidungen ermöglichen kann. Was nicht als Akte weitergereicht werden kann (analog oder digital), existiert nicht. Wem es nicht gelingt, ein Büro einzurichten, das im Geflecht weiterer Büros seinen Ort hat, kann weder eine Organisation verändern noch eine Entscheidung treffen. Es liegt auf der Hand, dass damit weitreichende Möglichkeiten geschaffen, aber auch verhindert werden können.
Ein Management, lernt man bei Peter F. Drucker (The Practice of Management, 1954), besteht hingegen darin, zu jeder Alternative einer Entscheidung die Rückfrage stellen zu können, welche Ziele für welche Kunden (Qualität, Menge, Preis) damit erreicht beziehungsweise innerhalb der Organisation erleichtert werden können. Im Gegensatz zu definierbaren Büros, die immer schon ihre Ansprüche stellen, hat man es hier mit einem eher kontingenten Kunden zu tun, der kommt und wieder geht, mal diese und mal jene Ansprüche stellt und doch nie aus den Augen gelassen werden darf. Auch hier versucht die Organisation, über Büros ihre Routinen sicherzustellen, doch neben ihren Routinen gibt es die Meta-Routine, Projekte neu zu starten, wenn der Kunde neue Alternativen nahelegt, und zu beenden, wenn beim Kunden keine Punkte mehr zu gewinnen sind.
Und Verwaltung, lernt man bei Herbert A. Simon (Administrative Behavior, 1945), besteht darin, sich nicht nur an Entscheidungen, sondern an Entscheidungsprämissen zu orientieren und damit – Prinzip Alternative! – diese Prämissen auch auswechseln zu können. Diese Prämissen fangen Unsicherheit auf, indem immer diejenigen Entscheidungen getroffen werden können, die schon einmal getroffen worden sind – etwa weil sie bestimmten Programmen entsprechen, von bestimmten Leuten präferiert werden oder ganz einfach den üblichen Entscheidungswegen folgen. Das aber bedeutet, dass man bürokratische Regeln einführt, diese Regeln jedoch mit unternehmerischen Zielen bewertet und unter Umständen ändert. Verwaltung bedeutet, das Ordnungsproblem der Organisation in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken und jeweils zu entscheiden, wann man mit Bürokratie oder Management, mit bewährten Routinen oder neuen Projekten auf eine Aufgabenstellung reagiert.
Verwaltung bedeutet, sich zwischen Bürokratie und Management nicht nur entscheiden zu müssen, sondern beides auch kombinieren zu können. Damit steigt der Reflexionsbedarf in Organisationen. Man muss etwas von Organisation verstehen. Man muss Entscheidungen, die in der Organisation über die Organisation getroffen werden, ihrerseits mit Alternativen vergleichen. In der Theorie ist das leicht gesagt, in der Praxis muss das aber allererst geleistet werden. Meist hat man Anderes und Wichtigeres zu tun. Aber es lohnt sich, Verwaltung als das Ergebnis einer Entscheidung zu verstehen. Eine Organisation ist kein naturgegebener Sachverhalt und keine unverrückbare Institution. Man kann versuchen, über sie zu reden. Denn wenn man es nicht selbst tut, tun es andere.
Der Autor:
Dirk Baecker ist Seniorprofessor für Organisations- und Gesellschaftstheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee. Siehe zum Thema zuletzt Produktkalkül (Leipzig: Merve, 2017).
